Entdeckung des Elements 110 bei GSI - Bericht von Sigurd Hofmann, einem Elemententdecker
Aus der Rede von Sigurd Hofmann, Elemententdecker von GSI, zur Taufe des Elements Darmstadtium (aus der Tauf-Broschüre des Elements Darmstadtium, erschienen am 02.12.2003).
"Die Suche nach Element 110 war sicherlich das spannendste und aufregendste Experiment im Forscherleben aller Beteiligten."
Davon möchte ich Ihnen in meinem Vortrag einen Eindruck vermitteln.
1. Schritt: Die Auswahl der besten Reaktion. Mit Targets aus Blei und Wismut hatten wir uns in den Anfangsjahren der GSI schrittweise, beginnend bei den bekannten Elementen 104 bis 106, und dann den neuen Elementen 107, 108 und 109 hochgearbeitet. Als Projektile standen dabei Isotope von Titan bis Eisen zur Verfügung.
Konsequenterweise folgte als das Projektil für die Synthese von Element 110 das Nickel-Isotop mit der Massenzahl 62. Der Vorteil dieser Wahl war, dass wir an der Reaktion selbst möglichst wenig änderten. Auf diese Weise konnten wir hoffen, den Fehlerbereich beim Extrapolieren ins Unbekannte gering zu halten. Außerdem würde der entstehende Verdampfungsrestkern, das ist der Kern, den wir schließlich nachweisen, er entsteht durch Abdampfen eines Neutrons vom heißen Compoundkern, bei seinem radioaktiven Zerfall durch Abstrahlen eines Alpha-Teilchens in schon bekannte Kerne und Elemente übergehen. Ein absolut sicheres Verfahren, den unbekannten ersten Zerfall zu identifizieren.
2. Schritt: Wie groß ist die Bildungswahrscheinlichkeit, oder, anders gefragt, wie viel Strahlzeit brauchen wir?
Um diese Frage zu beantworten, konnten wir auf schon gemessene Querschnitte für die Elemente 102 bis 109 zurückgreifen. Für Element 110 extrapolierten wir mit großer Wahrscheinlichkeit einen Wert von 1,5 pb. Soweit so gut, aber was bedeutete das? Für ein Atom von Element 109 hatten wir 14 Tage Strahlzeit gebraucht. Der Querschnitt war 10 pb. Also folgte, für 1,5 pb brauchen wir etwa 100 Tage, und das ohne Reserve für statistische Schwankungen, für die wir einen Faktor drei ansetzen mussten. Also ein Jahr Strahlzeit, Tag und Nacht, ohne freies Wochenende, ohne Urlaub. Ausnahmsweise wäre das vielleicht zu schaffen gewesen, aber Herr Kienle (GSI-Geschäftsführer von 1984 bis 1992, Anm. d. Red.) hätte uns eine so lange Strahlzeit sicher nicht genehmigt, denn damals sorgte bei GSI noch ein anderes Experiment für Furore, die Suche nach den Positronen.
"Wir mussten die Apparatur empfindlicher machen, um die Messzeit um eine Größenordnung zu verkürzen, statt 365 Tage nur noch 35 Tage."
Was also war zu tun? Ganz einfach, wir mussten die Apparatur empfindlicher machen, um die Messzeit um eine Größenordnung zu verkürzen, statt 365 Tage nur noch 35 Tage. Dies geschah in den Jahren von 1988 bis 1993. Die wesentlichen Schritte waren folgende, ohne ins Detail zu gehen: Auf Beschleunigerseite wurde ein neuer Hochladungsinjektor gebaut, mit dem die Intensität um einen Faktor drei gesteigert wurde. Auf der SHIP-Seite erhöhten wir die Zuverlässigkeit, Transmission und Nachweisempfindlichkeit durch den Bau eines neuen Targetrades, Veränderungen am Separator und der Entwicklung eines neuen Detektorsystems samt Nachweiselektronik. Ein wichtiger Teil dazu, nämlich der Flugzeitdetektor, wurde von unserem neuen Partner aus Bratislava geliefert.
Der Strahl aus dem UNILAC trifft im Target auf einen Bleikern, ein äußerst seltenes Ereignis. Von diesen wenigen Ereignissen trennen sich in den meisten Fällen Projektil und Targetkern wieder nach Austausch einiger Nukleonen, oder der entstandene Compoundkern zerfällt durch Spaltung. Nur ein winziger Bruchteil überlebt durch Abdampfen eines Neutrons und Emission von Gamma-Strahlung. All das geschieht in kürzester Zeit noch innerhalb des Targets selbst, das nur 0,4 Mikrometer dick ist, und, obwohl sich das Verbundsystem mit 3 % der Lichtgeschwindigkeit bewegt. Ein phantastischer komplexer Prozess der Kern- Wechselwirkung. Der Separator SHIP trennt den Verdampfungsrestkern von den Projektilen innerhalb einer Mikrosekunde. Er wird am Ausgang des SHIP in das Detektorsystem implantiert und durch seinen Zerfall endgültig und eindeutig nachgewiesen.
Es gibt verschiedene Versionen, wie eine Fusionsreaktion ablaufen kann.
[...] Nach dem Gezeigten wird verständlich, warum uns besonders ein Parameter große Sorgen machte, nämlich, was ist die richtige Projektilenergie? Dazu betrachteten wir uns die bis dahin gemessenen Anregungskurven, das ist die Ausbeute als Funktion der Strahlenergie. Diese Messungen sind langwierig, insbesondere bei kleinen Wirkungsquerschnitten. Aus diesem Grund waren Anregungskurven nur unvollständig gemessen worden. Anhand der gezeigten Daten die richtige Energie für Element 110 zu bestimmen, ist ein Ratespiel. Es wird noch dadurch kompliziert, dass die meisten der damals gängigen Reaktionstheorien einen Extrapush Energie forderten, damit schwere Kerne überhaupt fusionierten. Die Wahl der Energie für Element 108 und 109 war durch diese Vorhersage beeinflusst. Ein folgenschwerer Irrtum, wie sich bald herausstellen sollte. Um die richtige Energie für Element 110 zu extrapolieren, haben wir unserem Benutzerausschuss, der für die Vergabe der Strahlzeiten zuständig ist, vorgeschlagen, die Anregungskurven für die Elemente 104 und 108 vor dem Hauptexperiment zu vermessen. Element 104 sollte relativ schnell gehen, da der Querschnitt mit 10.000 pb sehr hoch ist. Für Element 108 gab es nur einen Messpunkt. Aber, so sagten wir uns, wenn wir nach Element 110 suchen wollen, so muss es auch möglich sein, eine Anregungskurve für Element 108 zu messen. Ansonsten sollten wir besser unsere Arbeiten gleich einstellen.
"Leider tat sich erneut ein schier unüberwindliches Hindernis auf."
Für Element 108 brauchten wir als Projektil angereichertes Eisen-58. Unsere Beschleunigerleute schätzten eine Menge von etwa 4 Gramm für einen vierwöchigen Betrieb ab, das Gramm zu damals 500.000 Dollar. Das hätte den GSI-Haushalt total durcheinander gebracht, und wieder standen wir vor dem Aus der Superheavy Forschung. Zum Glück hatte sich inzwischen eine sehr freundschaftliche Beziehung zu den russischen Kollegen in Dubna entwickelt, erleichtert auch durch den Fall des Eisernen Vorhangs. So genierten wir uns nicht, einfach mal anzufragen, ob uns die Kollegen aus Russland mit ihren bekannterweise unerschöpflichen Rohstoffquellen helfen könnten. Sie konnten.
"Mehr als 10 Millionen Dollar auf einem Haufen."
Zu einem Vorexperiment brachten uns die Kollegen Sascha Eremin und Andrey Popeko einen Eisen-Schatz mit, 20,7 g angereichertes Eisen-58. Wir breiteten den Schatz auf meinem Schreibtisch aus, machten ein Foto und konnten es kaum glauben. Mehr als 10 Millionen Dollar auf einem Haufen. Das Experiment war gerettet. Am Abend haben wir zu Ehren des Spenders Yuri Oganessian noch etliche Flaschen französischen Rotwein geleert, nicht russischen, man soll ja nichts übertreiben. Ab jetzt ging alles sehr schnell. Im Juni wurde die Anregungskurve für Rutherfordium gemessen. Eindeutig ergab sich ein Maximum für den 1n Kanal bei 15,3 MeV Anregungsenergie. Wir sahen den 2n Kanal und schließlich auch den durch zunehmende Spaltung stark reduzierten 3n Kanal. Im Oktober kam für die Messung an Hassium das russische Eisen zum Einsatz. Begonnen wurde mit dem Messpunkt bei 20 MeV, das war der alte Wert, bei dem 1984 Element 108 entdeckt wurde. Nach einer Woche hatten wir nur ein weiteres Atom gemessen. Wie sollte da eine Anregungskurve zustande kommen? Wir entschieden uns die Energie zu ändern, und entgegen theoretischer Vorhersagen stellten wir den UNILAC auf eine kleinere Energie um. Am selben Abend zeigten unsere Detektoren die ersten zwei Ereignisse an, nach vier Tagen hatten wir 12 „Events“ und der Querschnitt war 10 mal höher als vorher.
"Erste Wetten wurden abgeschlossen"
Nun war der weitere Weg klar, ein Extrapush Energie war nicht notwendig. Erste Wetten wurden abgeschlossen, wie hoch wohl das Maximum sein würde. Wir beschlossen, den Differenzbetrag in DM einzusammeln. Es kamen 300 Mark zusammen und der Erfolg wurde in einem Thai-Restaurant gefeiert. Am Ende hatten wir 75 Atome des Isotops Hassium-265 produziert. Wir hatten wertvolle Information über den Alpha-Zerfall von Hassium gesammelt, der zu erwartenden Tochter nach dem Zerfall von Element 110. Und als wichtigstes Ergebnis: das Maximum des Querschnittes lag bei 13,8 MeV, also 1,5 MeV niedriger als bei Element 104. Mit diesen Daten extrapolierten wir eine optimale Anregungsenergie für die Erzeugung von Element 110. Sie lag bei 13,0 MeV. Am Montag, den 7. November 1994, wurde der Beschleuniger von Eisen auf Nickel umgestellt. Von Anfang an lief alles ausgezeichnet. Für Donnerstag hatte Gottfried unsere Mitarbeiter zu einer Rheintour eingeladen. Als ich an diesem Tag gegen Mittag ins Institut kam, begrüßten mich Fritz Hessberger und Victor Ninov mit einem Schlag auf die Schulter und den Worten: „We’ve got it“. Sie hatten am Morgen das Magnetband vom vergangenen Tag ausgewertet, und tatsächlich, am Mittwoch, dem 9. November um 16:39 Uhr war der erste Kern von Element 110 gemessen worden.
"Gegen Morgen um drei war die erste Fassung einer Veröffentlichung fertig."
Zu dritt begutachteten wir gründlich die Messdaten und kamen zu dem Schluss, dies war der Nachweis des ersten Atomkernes von Element 110 mit der Massenzahl 269. Und das nach nur zwei Tagen Messzeit. Was war jetzt zu tun? Sollten wir die Entdeckung gleich an die große Glocke hängen? Wir beschlossen, lieber nicht. Einmal waren unsere Kollegen außer Haus und zum anderen wären wir dann für längere Zeit mit Diskussionen aller Art beschlagnahmt worden. Außerdem brauchten wir dringend Zeit, um eine Veröffentlichung zuschreiben. Denn wir wussten von unseren russischen Kollegen, dass eine andere Gruppe in Dubna schon seit September nach Element 110 suchte, allerdings wurde dort nicht Blei, sondern Plutonium bestrahlt. Wir mussten jederzeit mit „News“ aus Dubna rechnen. Es war Eile geboten. Um es kurz zu machen, gegen Morgen um drei war die erste Fassung einer Veröffentlichung fertig, wir legten für die Kollegen Kopien auf die Schreibtische und gingen erst einmal schlafen.
Die endgültige Fassung wurde am 14. November in Heidelberg bei der Zeitschrift für Physik eingereicht. Auf dem Foto sehen wir das Entdecker-Team mit der ersten Zerfallskette von Element 110. Fast alle Kollegen sind heute noch einmal zusammengekommen. Besonders freuen wir uns, dass die einzige Frau auf dem Bild, unsere damalige Sekretärin Frau Ursula Vogel, heute auch bei uns ist. Bis zum Ende der Strahlzeit wurden noch zwei weitere Zerfallsketten gemessen, bevor am 21. November 1994 der Projektilstrahl von Nickel-62 auf Nickel-64 gewechselt wurde. Damit wurde ein weiteres Isotop von Element 110, das mit der Massenzahl 271, synthetisiert und nachgewiesen. Die Bildungswahrscheinlichkeit war sogar um einen Faktor 4 angestiegen. Es ist dieses Isotop, womit erst kürzlich unsere Arbeiten zu Element 110 in RIKEN in Japan und am Lawrence Berkeley Laboratory bestätigt wurden. Schließlich wurde am 1. Dezember das Target von Blei auf Wismut gewechselt, um nach Element 111 zu suchen. Ermöglicht wurde diese Suche durch die Verschiebung eines Positronenexperimentes ins neue Jahr, wodurch wir unsere Strahlzeit um drei Wochen verlängern konnten. Eine glückliche Änderung des Strahlzeitplanes, denn sie wurde mit 3 Zerfallsketten des neuen Elementes 111 belohnt. Doch das ist eine neue Geschichte.
"Sicherlich die aufregendste in unserem Leben."
Als wir am 22. Dezember aufhörten, lagen 2 ½ Monate Strahlzeit hinter uns, sicherlich die aufregendste in unserem Leben. Was jetzt noch zu tun blieb, war, uns Namen für die neuen Elemente zu überlegen. Damit wollten wir vorbereitet sein, wenn uns die IUPAC zu einem Namensvorschlag auffordern würde. Die interne Sitzung der SHIP Gruppe fand am 10. Dezember 1997 statt. Sie können mir glauben, es fiel uns schwer, viele gute Vorschläge nicht berücksichtigen zu können. Doch, am Ende der Sitzung waren wir uns einig, und, wie üblich bei besonderen Ereignissen, es mussten einige Flaschen Rotwein dran glauben. Wiederum französischer, versteht sich.
Ich denke, mit Darmstadtium haben wir dem Element 110 einen Namen gegeben, mit dem auch die Väter des SHIP und des UNILAC, Heinz Ewald und Christoph Schmelzer, zufrieden gewesen wären. Zum großen Teil verdanken wir ihnen, dass wir heute diese Feier abhalten können, und in ihrem Sinne wollen wir die Arbeiten zur Erforschung der Superschweren Elemente auch in Zukunft fortführen, hoffentlich auch weiterhin erfolgreich, mit nochmals gesteigerter Messempfindlichkeit, wie bisher auf internationaler Ebene und mit einer wachsender Zahl begeisterter junger Physikerinnen und Physiker."