CERN-Experiment: ALICE öffnet den Weg für hochpräzise Studien der starken Wechselwirkung
09.12.2020 |
Es ist der Beginn eines neuen Kapitels der Hadronenphysik: In einem in der Fachzeitschrift „Nature“ veröffentlichten Paper beschreibt die ALICE-Kollaboration am Europäischen Kernforschungszentrum CERN eine Technik, die eine Tür zu vielen neuen, hochpräzisen Studien am Large Hadron Collider (LHC) über die Dynamik der starken Kraft zwischen Hadronen öffnet. Von Anfang an hat auch GSI eine führende Rolle bei Bau und wissenschaftlichem Programm von ALICE, einem der vier Großexperimente am CERN, gespielt.
Mit der Veröffentlichung „Unveiling the strong interaction among hadrons at the LHC" legt die ALICE Kollaboration interessante neue Erkenntnisse rund um das Thema ‚Hadronen und ihre Wechselwirkungen‘ vor. Hadronen sind aus zwei oder drei Quarks zusammengesetzte Teilchen, die durch die starke Wechselwirkung zwischen Quarks und Gluonen gebunden werden. Diese Wechselwirkung besteht auch zwischen Hadronen und bindet Nukleonen (Protonen und Neutronen) im Inneren von Atomkernen aneinander. Eine der größten Herausforderungen in der heutigen Kernphysik ist das Verständnis der starken Wechselwirkung zwischen Hadronen mit unterschiedlichem Quarkgehalt, ausgehend von der starken Wechselwirkung zwischen den Hadronen-Konstituenten Quarks und Gluonen.
Lattice-QCD (Quantenchromodynamik)-Berechnungen können verwendet werden, um die Wechselwirkung direkt aus den grundliegenden physikalischen Gesetzen heraus zu bestimmen. Jedoch liefern diese Berechnungen zuverlässige Vorhersagen nur für Hadronen, die schwere Quarks enthalten, wie beispielsweise Hyperonen, die ein oder mehrere Strange-Quarks besitzen. In der Vergangenheit wurden diese Wechselwirkungen durch Kollisionen von Hadronen in Streuexperimenten untersucht, aber diese Experimente sind schwierig mit instabilen, also schnell zerfallenden Hadronen wie Hyperonen durchzuführen. Genau diese Problematik hat bisher einen aussagekräftigen Vergleich zwischen Messungen und Theorie für Hadron-Hadron-Wechselwirkungen mit Hyperonen verhindert.
Die neue Studie der ALICE-Kollaboration rückt die Messung der Impuls-Korrelationen zwischen Hadronen, die bei Proton-Proton-Kollisionen am LHC erzeugt werden, in den Fokus. Sie zeigt, dass die darauf basierende Technik die Dynamik der starken Wechselwirkung zwischen Hyperonen und Nukleonen ans Licht bringen kann, und zwar potenziell für jedes beliebige Hadronenpaar. Die Technik wird Femtoskopie genannt, weil sie die Untersuchung von räumlichen Skalen nahe 1 Femtometer (10−15 Meter) erlaubt – was etwa der Größe eines Hadrons entspricht und auch der Reichweite der Starken Kraft.
Diese Methode hat es dem ALICE-Team bereits früher ermöglicht, Wechselwirkungen mit Lambda (Λ)- und Sigma (Σ)-Hyperonen, die ein Strange-Quark plus zwei leichte Quarks enthalten, sowie mit dem Xi (Ξ)-Hyperon, das aus zwei Strange-Quarks plus einem leichten Quark besteht, zu untersuchen. In der neuen Studie nutzte das Team die Technik, um mit hoher Präzision die Wechselwirkung zwischen einem Proton und dem seltensten der Hyperonen, dem Omega (Ω)-Hyperon, das drei Strange-Quarks enthält, zu bestimmen.
„Die erhaltene Genauigkeit der Bestimmung der starken Wechselwirkung für alle Arten von Hyperonen war unerwartet", sagt ALICE-Physikerin Laura Fabbietti, Professorin an der Technischen Universität München. „Dies lässt sich durch drei Faktoren erklären: die Tatsache, dass der LHC Hadronen mit Strange-Quarks in großen Mengen erzeugen kann, die Sensitivität der Femtoskopie-Technik auf den kurzreichweitigen Teil der starken Wechselwirkung, und schließlich die hervorragenden Messgenauigkeiten, die mit dem ALICE-Detektor bei der Teilchenidentifizierung und Impulsmessung erreicht werden.“
Kernphysiker Professor Peter Braun-Munzinger, wissenschaftlicher Direktor des ExtreMe Matter Instituts EMMI bei GSI und langjähriger Vorsitzender des Collaboration Boards von ALICE, ist in die aktuellen Untersuchungen maßgeblich involviert. Er unterstreicht ebenfalls die Bedeutung der nun veröffentlichten Forschung: „Unsere Erkenntnisse öffnen wirklich die Tür zu einem neuen Kapitel in der Hadronenphysik, und mit der um den Faktor 100 erhöhten Statistik für Run3 und Run4 am LHC werden viele neue Untersuchungen möglich sein.“
Die Verbindung zwischen GSI und ALICE ist traditionell sehr eng: Die Forschungsabteilung ALICE von GSI ist mitverantwortlich für den Betrieb der zwei größten Detektorsysteme von ALICE. Die Zeitprojektionskammer (TPC) und der Übergangsstrahlungsdetektor (TRD) wurden unter wesentlicher Beteiligung von GSI-Mitarbeitenden der ALICE-Abteilung und des Detektorlabors entwickelt und aufgebaut. Aktuell leistet GSI einen maßgeblichen Beitrag zum ALICE-Upgrade-Programm, insbesondere im TPC-Projekt und bei der Entwicklung des neuen Online-Offline(O2)-Software-Frameworks. Dazu arbeiten die ALICE-Abteilung, das Detektorlabor und die IT-Abteilung eng zusammen. GSI-Wissenschaftler*innen haben diverse führende Rollen in der Datenanalyse und im Physikprogramm von ALICE. Die GSI-Wissenschaftlerin und Professorin an der Universität Heidelberg, Silvia Masciocchi, ist derzeit Vorsitzende des ALICE Collaboration Boards.
„Unsere neue Messung ermöglicht einen Vergleich mit Vorhersagen aus Lattice-QCD-Berechnungen und bietet eine solide Basis für weitere theoretische Arbeiten“, sagt ALICE-Sprecher Dr. Luciano Musa. „Die Daten der nächsten LHC-Strahlzeiten sollten uns Zugang zum Verständnis der Wechselwirkung zwischen beliebigen Hadronenpaaren ermöglichen.“ Er betont abschließend: „ALICE hat einen neuen Weg für die Hadronenphysik am LHC eröffnet – einen Weg, der alle Arten von Quarks umfasst." (CERN/BP)
Weitere Informationen
Das ALICE-Experiment am CERN (Englisch)
ALICE bei GSI (Englisch)